Stellungnahme zur Sprachstandsfeststellung durch MIKA-D Test in Schulen
Die Antidiskriminierungsstelle Steiermark erlaubt sich anlässlich einer Vielzahl von Beschwerdefällen aufgrund der im Jahre 2018/19 eingeführten MIKA-D Tests (Messinstrument zur Kompetenzanalyse Deutsch) und daraus folgenden Maßnahmen der Deutschförderklassen und -förderkurse Stellung zu nehmen:
Die Testungen werden in der Praxis ausschließlich an Kindern mit nicht deutscher Muttersprache bzw. Kindern, deren Eltern im Ausland geboren wurden, durchgeführt. Zwar beurteilt die jeweilige Schulleitung alle Kinder anhand eines Begleitgespräches und Rückmeldungen aus dem Kindergarten, ob die Schulreife eines Kindes erreicht ist und ob es als „ordentlich" in die 1. Schulstufe einsteigen kann, hegt jedoch die Schulleitung Zweifel an der deutschen Sprachkompetenz des Kindes, gibt es die Möglichkeit, einen freiwillige Erstabklärung in Form eines dreiminütigen Sprachkompetenztestes (MIKA-O)¹ zu absolvieren.
Im BMBWF-Erlass vom 06.11.2020 GZ: 2020-0.597.751²/Informationsschreiben zum freiwilligen Einsatz des Instruments MIKA-Orientierung im Rahmen der Schulreifefeststellung ab Jänner 2021 heißt es, dass Kinder, die basierend auf der Einschätzung der Schulleitung für eine MIKA-D Testung in Frage kommen, nun für die Erstabklärung mit MIKA-O getestet werden, sodass sich der Zeitaufwand verringert. Wesentlich ist dabei festzustellen, dass hier explizit auf die Einschätzung der Schulleitung abgestellt wird und damit willkürliche Entscheidungen aufgrund von persönlichen Erfahrungen und subjektiven Gegebenheiten die Folge sein können, sodass Art. 7 B-VG aufgrund von willkürlicher Auswahl verletzt wird.
Nach welchen Kriterien die Kinder und Jugendlichen für den MIKA-D Test ausgewählt werden, wird weder im SchUG, SchOG³ noch im Verordnungs- oder Erlasswege konkretisiert. Da die normativen Vorgaben unseres Erachtens nicht hinreichend determiniert sind, wird das Legalitätsprinzip nach Art 18 B-VG verletzt. Zudem liegt eine Verletzung des Willkürverbots (Art 7 B-VG) vor, weil der Schulleitung die Möglichkeit eröffnet wird willkürlich beziehungsweise aufgrund unsachlicher, selbst gewählter Kriterien zu entscheiden, wer den MIKA-D Test absolvieren muss.
Dazu führt Mag. Dr. Verena Blaschitz, vom Institut für Germanistik, Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Wien, folgendes in Bezug auf Auswahl und Testung aus:
"Im Rahmen der Schuleinschreibung entscheidet der*die Schulleiter*in, bei welchen Kindern „mit Deutsch als „Zweitsprache" im Rahmen eines Zusatztermins die Deutschkenntnisse mittels MIKA-D überprüft werden. Es ist jedoch unbekannt, auf welcher linguistischen Grundlage diese Entscheidung getroffen wird. Es besteht also durchaus bereits hier die Möglichkeit einer (hohen) Fehlerquote, da die arbiträre Zuweisung zum Screening sicherlich gewisse Lücken aufweist. Bei dem eigens vereinbarten Termin führt der*die Schulleiter*in bzw. eine „sonstige geeignete Lehrperson" das Screening durch. Voraussetzung für die Durchführung von MIKA-D ist eine verpflichtende Schulung. Die aus der Schulung resultierende sprachdiagnostische Kompetenz muss allerdings in keiner Form nachgewiesen werden (Glaboniat 2020, 72). Die Schulung wurde bereits vor der Pandemie online abgehalten und ist mit einem Gesamtaufwand von acht Einheiten zu je 45 Minuten nicht sehr umfangreich. Bei der Schulung sind keine synchronen Einheiten vorgesehen, sondern die Teilnehmer*innen sind dazu aufgefordert, die drei Module hintereinander zu absolvieren und Übungsbeispiele durchzuführen. Im Rahmen der Schulung ist es also nicht möglich, persönlich in Austausch mit den Entwickler*innen des Screenings bzw. mit Multiplikator*innen zu treten und Fragen zu stellen bzw. Unklarheiten zu besprechen. Dies ist für das Verständnis des Screenings nachteilig, sodass man die Schulungen als nicht ausreichend fundiert bezeichnen kann."⁴
Die bei der Antidiskriminierungsstelle Steiermark eingelangten Beschwerdefälle ließen vermuten, dass je nach Schulleitung unterschiedliche Auswahlkriterien im Vordergrund standen, denn der Besuch der Kinderkrippe, des Kindergartens und das Erlernen der deutschen Sprache im sozialen Umfeld ab dem ersten Lebensjahr wurde nicht berücksichtigt.
Auch die Stellungnahme des IDB (Initiative Diskriminierungsfreies Bildungswesen) zeigt anhand gemeldeter Fälle, die Willkürlichkeit der Auswahl von Kindern, welche den MIKA-D Test machen mussten:
„Außerdem war ich Zeugin davon, dass die Direktorin zu einer Mutter (Japanerin) hingegangen ist und gesagt hat, dass der Martin (Name geändert) die Deutschprüfung nicht ablegen muss, Martins Vater ist in der Gemeinde tätig und autochthon. Wobei der Ali (Name geändert), Mama (Türkin), Vater ebenfalls autochthon, die Deutschprüfung absolvieren muss. Alis Mama daraufhin, warum ihr Sohn die Mika-D Prüfung absolvieren muss, er könne doch auch perfekt Deutsch. Die Direktorin daraufhin ganz plump, erstens sie müsse es im System eintragen und zweitens wenn der Ali eh so gut Deutsch kann, dann wird er sich eh nicht schwer tun!"
Lehrperson Birgit Sieber-Mayr erzählte in der Sendung Zeit im Bild vom 12.12.2020, dass sie „milde" teste, um nicht die erforderliche Anzahl an Schüler*innen für eine Deutschförderklasse zu erreichen. „Wir machen die Tests immer so, dass sich das gerade ausgeht. Wir sind sehr milde bei der Testung, damit wir die acht Kinder nicht überschreiten."⁵
Hierzu stellte vor Einführung des Testes die Pädagogische Hochschule Oberösterreich in ihrer Stellungnahme zum Gesetzesentwurf zur Änderung der § 8e („Sprachstartgruppen und Sprachförderkurse") und § 8h SchOG („Deutschförderklassen und Deutschförderkurse") sowie SchUG und Schulpflichtgesetz (SchPflG)⁶ fest: „Eine qualitativ hochwertige Sprachstandsdiagnose („objektive und transparente Feststellung"), die eine Vorbedingung für zielgerichtete Förderung ist, scheint nicht gewährleistet. Weiters ist problematisch, dass die Testung des Sprachstandes in der Übergangszeit ausschließlich den Schulleitungen obliegt und keine Vorgaben des BMBWF (Testart, Testdauer, Durchführungsrahmen) vorgesehen sind."⁷
Allein die Tatsache, dass Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache automatisch einer Überprüfung unterzogen werden, führt zu einer Ungleichbehandlung durch mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft, die im Zusammenhang mit der Angabe der Muttersprache bzw. Erstsprache erfolgt.
Per se wird davon ausgegangen, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist bzw. deren Eltern im Ausland geboren sind, Deutsch aufgrund ihrer anderen ethnischen Herkunft und ihrem Muttersprachgebrauch nicht beherrschen. Es wird weder berücksichtigt, ob sie österreichische Staatsangehörige oder in Österreich aufgewachsen sind, noch ob sie die Kinderkrippe und/oder den Kindergarten für ein oder drei Jahre in Österreich besucht haben. Hierbei werden österreichische Staatsbürger*innen anders behandelt als ebenfalls in Österreich geborene Staatsbürger*innen, die aber eine andere Erstsprache sprechen als Deutsch.
Laut dem Leitfaden des Bildungsministeriums für Schulleiter*innen zu Deutschförderklassen und Deutschförderkursen entsprechen die österreichischen Deutschförderklassen den Vorbereitungsklassen, die in diversen anderen europäischen Ländern eingerichtet wurden, um neu eingetroffenen Kindern mit Migrationsgeschichte die rasche Erlernung der jeweiligen offiziellen Landessprache zu ermöglichen. Auch der Eurydice Bericht⁸ (ein Netzwerk, das für die Überwachung von Schulsystemen in Europa zuständig ist) hebt die Vorbereitungsklassen, welche im Gegensatz zum österreichischen Modell nicht parallel zum Klassenunterricht stattfinden, positiv hervor. Das Argument der positiven Diskriminierung lässt sich aber nicht auf die Deutschförderklassen erstrecken, da es sich hierbei nicht um neu eingetroffene Kinder mit Migrationsgeschichte handelt, sondern um Kinder, die genauso wie ihre Mitschüler*innen in Österreich geboren und/oder hier aufgewachsen sind.
Geeignetes Mittel? Geeignete Testmethode?
MIKA-D wurde Anfang April 2019 eingeführt, um mittels eines Schnelltestverfahrens bzw. Screenings zu überprüfen, „ob Schüler/innen ausreichende Kenntnisse in der Unterrichtssprache Deutsch erworben haben, um dem Unterricht folgen zu können".⁹ Durchgeführt wird der Test von der Schulleitung - die den Test auch angeordnet hat - oder durch, von ihr ernannte Lehrpersonen, die nach Teilnahme an einer Onlineschulung im Umfang von acht Einheiten zu je 45 Minuten keinen weiteren Nachweis über ihre sprachdiagnostische Kompetenz vorweisen müssen. Grundsätzlich ist für eine sprachdiagnostische Auswertung eine umfangreiche Ausbildung notwendig, allerdings wird von den Lehrpersonen erwartet, den Screening-Test MIKA-D nicht nur abzuhalten, sondern zeitgleich auch auszuwerten.¹⁰
Schon die Stellungnahme des Büros für Inklusive Bildung (BIB) und Zentrums für Text-und Informationskompetenz (DiZeTIK) der Pädagogischen Hochschule Wien vom 11.04.2018 machte auf den Umstand aufmerksam, dass seriöse und objektive Sprachkompetenzmessungen, wie dies § 4 Abs 2a SchUG verlangt, umfassende, komplexe und valide Instrumente sowie geschulte Prüfer*innen erfordern. Des Weiteren kann ein derartiges Testverfahren nur mit entsprechend erprobten Tests und nach einer fundierten Ausbildung der Prüfer*innen zielführend umgesetzt werden, wobei nun aber nur vereinzelte Schulleiter*innen ad §131 SchOG über eine entsprechende Ausbildung für die Testungen der Zweitsprachenkompetenz verfügen.¹¹
„Der Test dauert 20 Minuten, was für Kinder, die gerade aus dem Kindergarten kommen und noch nicht an ein institutionelles Umfeld gewöhnt sind, eine lange Zeitspanne in einem ungewohnten und neuen Umfeld darstellt. Je nach psychischer und physischer Tagesverfassung unterliegen Kinder starken Leistungsschwankungen. Die vage Formulierung „Kenntnisse, (...) um dem Unterricht folgen zu können" lässt vermuten, dass hier rezeptive Fähigkeiten abgetestet werden, allerdings zielt MIKA-D vorwiegend auf produktive Fähigkeiten ab, wonach der Schwerpunkt auf grammatikalischen Fragestellungen und nicht auf das tatsächliche Level eines vielphasigen Sprachaneignungsprozesses bzw. auf dem notwendigen Wortschatz liegt. Der Sprachaneignungsprozess ist sehr komplex und ergibt sich sowohl aus biologischen, kognitiven und sozio-affektiven Faktoren, die aber von MIKA-D unberücksichtigt bleiben, wonach Kinder mit einem tatsächlich gutem Aneingungslevel der deutschen Sprache von MIKA-D nicht erfasst und somit zu Unrecht als „außerordentlich" eingestuft werden und ihnen dadurch erhebliche Nachteile im Schulalltag erwachsen."¹²
Keine Beschwerdemöglichkeit
Der MIKA-D Test wird, wie oben beschrieben, von derselben Schulleitung vorgenommen und ausgewertet, die das Kind auch zur Vornahme des Tests verpflichtete. Die Ergebnisse des MIKA-D Tests „verbleiben bis zum Ende des außerordentlichen Status der/des jeweiligen Schüler*in am Schulstandort" (BMBWF 2018). Somit können Eltern und Erziehungsberechtigte das Ergebnis ihres Kindes weder einsehen noch nachvollziehen. Es gibt keine Möglichkeit, gegebenenfalls Einspruch wegen falscher Auswertung oder mangelhafter Durchführung zu erheben.¹³
Der MIKA-D Test ist gemäß §18 Abs 14 und 15 SchUG nach jedem Semester zu wiederholen, die maximale Dauer des a-o Status beträgt zwei Jahre. Die betroffenen Kinder erleiden Laufbahnverluste und verlieren wichtige Lebens- und Lernzeit wie Schulleiterin Ilse Riesinger bereits am 5. Juli 2019 in einem ORF-Interview mitteilte: „Da gibt es dann eine Vielzahl an Kindern, die allein für die ersten zwei Schuljahre vier Jahre lang brauchen. Was das für ein Kind seelisch bedeutet, muss ich wohl nicht sagen."
Auch Kremser¹⁴ vertritt die Meinung, dass es „nur schwer denkbar sei, dass ein Schüler die Anforderung des § 25 Abs 5d SchUG erfüllen kann, nämlich, dass die Schulbesuchsbestätigung am Ende des Unterrichtsjahres in allen Pflichtgegenständen eine Beurteilung aufweist." Laut ErläutRV 107 BlgNR 26. GP (S. 7)¹⁵ sei es für Schüler*innen, die die Deutschförderklasse oder den Deutschförderkurs besuchen, nämlich nicht möglich sei „alle Pflichtgegenstände der betreffenden Schulstufe zu besuchen".
Die Langzeitfolgen und Auswirkungen eines solchen Systems des Wiederholens beschreibt der OECD Bericht mit hohen Drop-Out Quoten im Schulsystem und kürzerer Verweildauer am Arbeitsmarkt.¹⁶
Segregation durch Deutschförderklassen
Die Deutschförderklassen werden gemäß §8h (2) SchOG¹⁷ ab acht förderbedürftigen Kindern eingerichtet und können klassen- jahrgangs- und schulartenübergreifend sein. Je nach Schulform verbringen Kinder 15 oder 20 Wochenstunde in diesen Klassen - was bedeutet, dass 70 bis 75 % der Schulzeit außerhalb ihrer „Stammklasse" verbracht werden. Eine Maximalanzahl an teilnehmenden Schüler*innen pro Deutschförderklasse wurde nicht festgelegt.¹⁸ Diese Kinder werden nicht beurteilt und bekommen kein Zeugnis, sondern eine Schulbesuchsbestätigung und sind nach jedem Semester gemäß § 18 Abs 14 SchUG zur Absolvierung eines MIKA-D angehalten.
Seit Beginn der 1990er-Jahre wurden (teil-)integrative Maßnahmen in Form von Sprachstartgruppen und Sprachförderkursen erfolgreich umgesetzt, die nun den segregativ ausgerichteten „Deutschförderklassen" und „Deutschförderkursen" weichen müssen.¹⁹
In ihrer wissenschaftlichen Publikation bringen Ass.-Prof. Mag. Dr. Hannes Schweiger und Dr.sc.ed. Beatrice Müller, BA MA vom Institut der Germanistik der Universität Wien die Problematik auf den Punkt: „Der Diskurs und die Umsetzung sind defizitorientiert und zeugen von einem monolingualen Habitus, der sich in der starken Fokussierung auf Deutsch und Deutschförderung bei gleichzeitiger Vernachlässigung vorhandener Mehrsprachigkeit zeigt."²⁰
Der Schwerpunkt in Deutschförderklassen liegt auf dem Spracherwerb, die anderen Schulfächer werden vernachlässigt, was zu einem systematischen Bildungsnachteil für Förderklassenteilnehmer*innen führt. Somit werden die Kinder mit einem „außerordentlichen" Status nicht nur von ihrer „Stammklasse" als soziale Gemeinschaft getrennt, sondern auch beim Bildungsangebot stark einschränkt. Kann beispielsweise der zu absolvierende MIKA-D Test idealerweise schon nach dem Wintersemester als „außerordentliche/r" Schüler*in positiv absolviert werden, muss das Kind den Stoff der Stammklasse eigenständig aufholen, da es ab dem Sommersemester im Rahmen der Stammklasse wieder benotet wird. Der Österreichische Verband für Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache (ÖDaF)²¹ machte in seiner Stellungnahme auf den negativen Umstand und Konsequenzen des a.o. Status schon 2018 aufmerksam: Werden Schüler*innen zum Besuch einer Deutschförderklasse länger als ein Semester verpflichtet, kommt dies einer Rückstufung gleich, da sie mit Zuteilung eines „außerordentlichen Status" nicht zum Aufsteigen in die nächsthöhere Schulstufe berechtigt sind. Nach einem Jahr gesonderten Unterrichts und positiver Absolvierung des MIKA-D Tests werden die Kinder wohl kaum in der Lage sein, den ordentlichen Schulstoff im Alleingang aufzuholen, wonach sie damit zumindest ein Jahr verloren haben. Hier wird deutlich, wie sehr diese Maßnahmen eine Bildungsbenachteiligung schaffen.
Wie im Gutachten von Frau Univ.-Prof. Dr. İnci Dirim, MA, Institutsvorständin am Institut für Germanistik, Deutsch als Zweitsprache und den Stellungnahmen der Oberösterreichischen Pädagogischen Hochschule und des Österreichischen Verbandes für Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache (ÖDaF) ausgeführt, haben Deutschförderklassen durch das Herausnehmen der Schüler*innen aus dem Klassenverband der Stammklasse im Ausmaß von 70-75% der Unterrichtszeit einen segregierenden Charakter und tragen dazu bei, dass eine starke Fokussierung auf die deutsche Sprache stattfindet und andere Sachfächer wie z.B. Mathematik vernachlässigt werden. Der Besuch der Deutschförderklasse für mehr als ein Semester kommt im Grunde einer Rückstufung gleich, da ein Aufstieg in die nächste Schulstufe dadurch nicht möglich wird und mindestens ein Schuljahr verloren geht. Die Bildungsbenachteiligung gerade der Schüler*innen, die gefördert werden sollen um Chancengleichheit zu erfahren, wird verstärkt, sodass Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls (Recht auf Bildung) verletzt wird.
Weitreichender als das Verlieren von bis zu zwei Jahren kann die Demotivation für das Lernen bzw. für die Erzielung eines Lernerfolges sein, wenn ein Kind schon zu Beginn seiner Schullaufbahn ausgegrenzt und dem aufzuholenden Stoff allein überlassen wird. Laut Stellungnahme der Oberösterreichischen Arbeiterkammer²² fühlen sich die „außerordentlichen" Kinder, als sei ihnen ein „Stempel" aufgedrückt worden. Der Bezug zu ihrem Klassenverband geht verloren, in den Deutschförderklassen findet eine quantitative und qualitative Reduzierung von Bildung und somit eine Benachteiligung beim Zugang zu Bildung für Schüler*innen in Deutschförderklassen statt. Die Einschränkung im Recht auf Bildung und in der demokratischen Teilhabe (keine Klassensprecher*in und kein Klassenforum in Deutschförderklassen) für Schüler*innen in Deutschförderklassen ist unverhältnismäßig."²³
Internationale Rechtsprechung
In zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), wird die Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls (Recht auf Bildung) festgestellt.
In einem Verfahren gegen Tschechien wurde konkret kritisiert, dass Roma-Kinder einen standardisierten Test absolvieren mussten. Bestanden sie diesen nicht, wurden sie Sonderschulen zugewiesen, was eine unverhältnismäßig große Anzahl an Roma-Kindern im Vergleich zu anderen Kindern in den Sonderschulen zur Folge hatte. Eine derartige Segregation wurde vom EGMR als diskriminierend und nicht gerechtfertigt angesehen. Dies ist durchaus mit der österreichischen Praxis vergleichbar, alle Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist oder deren Eltern im Ausland geboren wurden, mit dem MIKA-D-Test zu testen, und sie dann aufgrund des „außerordentlichen" Status Deutschförderklassen zuzuweisen und so von der Stammklasse zu segregieren.²⁴
In Kroatien wurden Roma-Kinder aufgrund mangelhafter kroatisch-Kenntnisse in separaten Sprachförderklassen unterrichtet. Der EGMR hält dazu fest, dass eine Separation der Kinder zur Sprachförderung nur dann stattfinden sollte, wenn dies absolut notwendig sei. Diese Segregation dürfe ausschließlich aufgrund standardisierter, objektiver und transparenter Tests und nicht aufgrund der ethnischen Herkunft stattfinden. Vielmehr sollten die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse der Kinder ausschlaggebend sein. Der in Österreich angewandte MIKA-D Test kann aufgrund mangelnder Qualität und Objektivität keinesfalls als ein Test im Sinne des EGMR-Urteils qualifiziert werden.²⁵
Zwar bezieht sich in den beiden EGMR-Entscheidungen die Diskriminierung auf Roma-Kinder, die eine anerkannte nationale Minderheit in beiden EU-Staaten sind und die getätigten Maßnahmen richten sich zwar gegen diese, eine ethnische Minderheit, was hier nicht auf jene Kinder zutrifft, die zur Absolvierung eines MIKA-D Tests verpflichtet werden. Allerdings handelt es sich auch in Österreich um eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft, denn die Angabe der Erstsprache ist Kriterium der Auswahl zum MIKA-D Test und weiterer Maßnahmen.
Fazit und Empfehlung
Gerade durch die Einführung des MIKA-D Tests für Kinder mit einer anderen Erstsprache bzw Kinder deren Eltern im Ausland geboren wurden, wird der Anschein erweckt, dass das „Bildungssystem damit einen Maßstab vorgibt, an dem mehrsprachig aufwachsende Kinder als defizitär erscheinen und fast notwendig scheitern müssen."²⁶ Es kann in einer sozialen Gesellschaft nicht als zielführende Maßnahme gelten, dass Menschen mit unterschiedlicher Herkunftsgeschichte und unterschiedlichen Erstsprachenkenntnissen nicht die gleichen (Bildungs-)möglichkeiten erhalten wie ihre gleichaltrigen Schulkolleg*innen, die gleichermaßen in Österreich geboren wurden. Inwiefern ist es sinnvoll zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kindern eine weitere Hürde in den Bildungsweg zu stellen und dabei nicht zu beachten wie divers der Spracherwerb und die Entwicklung jedes Kindes für sich ist.
Sprachförderung ist als sinnvolle und notwendige Maßnahme anzuerkennen und sollte allen Kindern, die einer sprachliche Förderung bedürfen, unabhängig von ihrer Herkunft zur Verfügung stehen.
Zu kritisieren ist auch das System der Umsetzung von eigentlich sinnvollen Unterstützungsmaßnahmen. Es kann nicht notwendig sein, mit einer Förderungsmaßnahme gleichzeitig eine Trennung und Ausgrenzung zu ermöglichen, wodurch das Erlernen der Sprache nicht mehr leistungsheterogen im sozialen Umfeld, sondern separat in einer systematisch ausgegrenzten Gruppe stattfinden soll und dadurch eine Chancengleichheit aufgrund einer inhaltlichen Herabsetzung der zu vermittelnden Lerninhalte nicht gewährleistet wird. Nach Ansicht der Antidiskriminierungsstelle Steiermark ist dem Schluss einer migrationspolitischen und diskriminierungskritischen Perspektive von David Füllekruss und İnci Dirim zu folgen: „[Es scheint] [n]icht nur für das soziale Miteinander aller Schüler*innen sinnvoller zu sein, eine Kombination von integrativen und additiven Maßnahmen zu implementieren, sondern auch für die Entwicklung der benötigten Deutschkompetenz."²⁷
Gesamtgesellschaftlich weiter gedacht wäre es doch ein großer Vorteil miteinander zu lernen und von der Mehrsprachigkeit Vieler dahingehend zu profitieren, als zusätzliche Sprachkenntnisse kein Defizit, sondern eine Zusatzqualifikation darstellen.
Gerade im Kindesalter wird eine Zweitsprache sehr schnell erlernt. Allerdings braucht es dafür einen Austausch mit dem sozialen Umfeld. Grundsätzlich ist das Kontaktalter entscheidend für die Fähigkeit zum Erlernen von Deutsch als Zweitsprache, ebenso spielt das Lebensalter eine große Rolle. Je früher man mit einer Zweitsprache in Kontakt kommt, desto problemloser kann das phonologische System erfasst werden.²⁸ Es ist unserer Ansicht nach nicht notwendig, Kindern in gesonderten Förderklassen Deutsch als Fremdsprache beizubringen, da die individuelle Sprachentwicklung von vielen Faktoren abhängt und eine Sprache nicht ausschließlich in dafür vorgesehenen Unterrichtsstunden, sondern auch z.B. während des Sachunterrichtes und während der Pausen erlernt werden kann. Gerade in der Volksschule sind doch Kinder mit einer Vielzahl an neuen Vokabeln konfrontiert und können entsprechende deutsche Begriffe z.B. auch im Mathematikunterricht gleichzeitig mit den vermittelten Inhalten erlernen. Hier muss dringend ein Umdenken stattfinden und auf integrative Maßnahmen gesetzt werden, um nicht schon im Kindesalter mit dem Vorhaben, eine sprachliche Barriere zu überwinden, eine gesellschaftliche Spaltung herbeizuführen.
MIKA-D Test SAMMLUNG Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf
Vor Einführung der Klassen:
1. Stellungnahme des Arbeitsbereichs Deutsch als Zweitsprache am Institut für Germanistik der Universität Wien (11/04/2018)
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00688/imfname_689417.pdf
2. Stellungnahme des Verbands für Angewandte Linguistik (11/04/2018)
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00690/imfname_689333.pdf
3. Büro für Inklusive Bildung (BIB) und Zentrum für Text- und
Informationskompetenz (DiZeTIK) der Pädagogischen Hochschule Wien (11/04/2018)
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00675/imfname_689174.pdf
4. Stellungnahme zum Gesetzesentwurf zur Änderung des SchOG („Deutschförderklassen und Deutschförderkurse") § 8e und §8h, sowie SchUG und SchPflG der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00739/imfname_689420.pdf
5. Stellungnahme II der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00739/imfname_689420.pdf
6. Stellungnahme des Österreichischen Verbands für Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache (ÖDaF) zur Änderung des Schulorganisationsgesetzes, des Schulunterrichtsgesetzes und des Schulpflichtgesetzes 1985 betreffend Deutschförderklassen
https://www.oedaf.at/dl/ukOuJKJMOLJqx4KJK/Stellungnahme_Deutschfoerderklassen_OeDaF.pdf
7. Stellungnahme der Lehrenden und Forschenden des Fachbereichs Deutsch als Zweitsprache der Universität Graz
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00708/imfname_689349.pdf
8. Zusammenfassung der Stellungnahme von SOS Mitmensch
https://www2.sosmitmensch.at/dl/rlmMJKJKmolJqx4KJK/Zusammenfassung_der_Stellungnahmen_zum_Separierungsgesetz_.pdf
9. Stellungnahme von Forschenden und Lehrendendes Bereichs Deutsch als Zweitsprache der Universitäten Graz, Innsbruck, Salzburg und Wien zum Bildungsprogramm 2017 bis 2022der österreichischen Bundesregierung
https://www.univie.ac.at/germanistik/wp-content/uploads/2018/01/stellungnahme-bildungsprogramm-2017-2022-oesterreichische-bundesregierung-pdf.pdf
Nach Einführung der Klassen
10. ÖFEB-Stellungnahme -Deutschförderklassen
https://www.oefeb.at/webroot/uploads/files/Stellungnahmen/%C3%96FEB_Stellungnahme_Deutschf%C3%B6rderklassen_12%202020.pdf
11. Stellungnahme des Netzwerk SprachenRechte und des Österreichischen Verbands für Deutsch als Fremd-und Zweitsprache (ÖDaF) zum Einsatz von MIKA-D(Messinstrument zur Kompetenzanalyse -Deutsch) (nach SCHUG §4 Abs. 2a)
https://www.oedaf.at/dl/NpkNJKJmKMJqx4KJK/Stellungnahme_MIKA-D_NWSR_OeDaF_final.pdf
12. Stellungnahme zu den Regelungen für Deutschförderklassen und MIKA-D in der Corona-Pandemie
https://www.oedaf.at/dl/usqOJKJmLlJqx4KJK/CORONA_Testung_postCORONA_final.pdf
13. Stellungnahme des Österreichischen Verbands für Deutsch als Fremdsprache/ Zweitsprache (ÖDaF) zu den Lehrplänen für Deutschförderklassen in Volksschulen, Sonderschulen, Neuen Mittelschulen sowie allgemein bildenden höheren Schulen
https://www.oedaf.at/dl/srOMJKJmoKJqx4KJK/Stellungnahme_O_DaF_Lehrpla_ne_Deutschfo_rderklassen_20180823.pdf
14. Stellungnahme Österreichischer Verband für Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache
https://www.oedaf.at/dl/rNpNJKJMONJqx4KJK/Offener_Brief_Bundesminister_Fa_mann_Deutschfoerderung_20180629.pdf
Fußnoten
1
2 17.07.2021
3 Bundesgesetz über die Schulorganisation (Schulorganisationsgesetz) idF BGBl. Nr. 267/1963
4 vgl. Mag. Dr. Verena Blaschitz: Gutachten zu „Messinstrument zur Kompetenzanalyse - Deutsch" („MIKA-D"), Institut für Germanistik, Universität Wien
5 Stellungnahme des IDB (Initiative Diskriminierungsfreies Bildungswesen)
6 Bundesgesetz über die Schulpflicht (Schulpflichtgesetz 1985) idF BGBl. Nr. 76/1985.
7 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00739/imfname_689420.pdf, 17.07.2021
8 https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/73ac5ebd-473e-11e7-aea8-01aa75ed71a1/language-de/format-PDF, 15.07.2021
9 https://www.iqs.gv.at/themen/nationales-monitoring/mika-d (Abruf 13.07.21).
10 Mag.a Dr.in Verena Blaschitz, Gutachten zu Messinstrumente zur Kompetenzanalyse - Deutsch" („MIKA-D), Universität Wien, 14.07.2021, Seite 3.
11 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00675/imfname_689174.pdf
12 Mag.a Dr.in Verena Blaschitz, Gutachten zu Messinstrumente zur Kompetenzanalyse - Deutsch" („MIKA-D), Universität Wien, 14.07.2021
13 Mag.a Dr.in Verena Blaschitz, Gutachten zu Messinstrumente zur Kompetenzanalyse - Deutsch" („MIKA-D), Universität Wien, 14.07.2021, Seite 2.
14 Kremser, M. Die Leistungsbeurteilung im österreichischen Schulrecht: Notengebung aus rechtlicher Sicht. Wien: NWV Neuer Wissenschaftlicher Verlag, 2020, 204.
15 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/I/I_00107/index.shtml
16 https://www.oecd.org/education/Helping-immigrant-students-to-succeed-at-school-and-beyond.pdf, 14. 17.07.2021
17 SchOG.
18 Hannes Schweiger und Beatrice Müller, Mangelhaft und unzureichend Deutschförderklassen aus der Sicht von Lehrerinnen und Lehrern Rubrik: Empirie in Inklusive Schulentwicklung - Beiträge zur Bildungsforschung, Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (Hrsg.), Band 8, 43ff.
19 Hannes Schweiger und Beatrice Müller, Mangelhaft und unzureichend Deutschförderklassen aus der Sicht von Lehrerinnen und Lehrern Rubrik: Empirie in Inklusive Schulentwicklung - Beiträge zur Bildungsforschung, Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (Hrsg.), Band 8, 43ff.
20 Hannes Schweiger und Beatrice Müller, Mangelhaft und unzureichend Deutschförderklassen aus der Sicht von Lehrerinnen und Lehrern Rubrik: Empirie in Inklusive Schulentwicklung - Beiträge zur Bildungsforschung, Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (Hrsg.), Band 8, 43ff.
21 Vgl. https://www.oedaf.at/dl/ukOuJKJMOLJqx4KJK/Stellungnahme_Deutschfoerderklassen_OeDaF.pdf, 12.07.2021
22 https://ooe.arbeiterkammer.at/beratung/bildung/schule/vorundvolksschule/Ausserordentliche_Schueler_-innen.html, 10.07.2021
23 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/SNME/SNME_00739/imfname_689420.pdf, 10.07.2021
24 EGMR, Urteil vom 13.11.2007, Beschwerde-Nr. 57325/00, D. H. und andere gegen die Tschechische Republik
25 EGMR, Urteil vom 16.03.20010, Beschwerde-Nr. 15766/03, Oršuš und andere gegen Kroatien
26 Gogolin/Nauck 2000, Gogolin/Neumann 1997 und 1998 zit. in Jampert 2002: 10
27 Füllekruss, D. & Dirim, İ. (2019). Zur Einführung von Deutschförderklassen im österreichischen Bildungssystem Eine diskriminierungskritische Analyse der Bildungspläne der Bundesregierung Kurz. In: S. Schmölzer-Eibinger, M. Akbulut & B. Bushati (Hrsg.). Mit Sprache Grenzen überwinden. Sprachenlernen und Wertebildung im Kontext von Flucht und Migration. (S.13-28). Münster New York: Waxmann.
28 Konrad Ehlich Ursula Bredel Hans H. Reich (Hrsg): Referenzrahmen zur alterspezifischen Spracheinignung, unter http://home.edo.tu-dortmund.de/~hoffmann/PDF/bildungsforschung_band_neunundzwanzig.pdf, 17.07.2021