Stellungnahme zur EuGH-Entscheidung über das Kopftuchverbot am Arbeitsplatz
Der EuGH äußert sich in seiner Entscheidung vom 14.03.2017 zu C-157/15 (Samira Achbita gegen G4S Secure Solutions NV) zum Verbot eines belgischen Unternehmens, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen der politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugung zu tragen.
Hintergrund dieser Entscheidung war die Klage einer belgischen Rezeptions- und Empfangsdame gegen ihren Arbeitgeber, der sie entlassen hatte, nachdem sie ihm angekündigt hatte, in Zukunft während der Arbeitszeit das islamische Kopftuch zu tragen.
Das Kopftuchverbot als unmittelbare Diskriminierung?
Der EuGH kommt zu dem Schluss, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung im Sinne des Art. 2 Abs. 2 lit a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 darstellt.
Der EuGH begründet diese Entscheidung zum einen damit, dass im vorliegenden Fall eine Regel im Unternehmen Gültigkeit hatte, die besagte, dass es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verboten ist, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugung zu tragen. Zum anderen ist für die Entscheidung des EuGH auch wichtig, dass er davon ausgehen konnte, dass die besagte Regel unterschiedslos für jede sichtbare Bekundung von politischen, philosophischen oder religiösen Symbolen gilt und für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen zur Anwendung kommt.
Das Kopftuchverbot als mittelbare Diskriminierung?
Der EuGH gibt auch Hinweise zur Frage, ob es sich beim Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, um eine mittelbare Diskriminierung gem. Art. 2 Abs. 2 lit b der Richtlinie 2000/78/EG handeln könnte. Eine mittelbare Diskriminierung wäre dann erfüllt, wenn die hier in Rede stehende unternehmensinterne Regel nur dem Anschein nach neutral wäre und de facto dazu führen würde, dass Personen mit bestimmten Religionen oder Weltanschauungen in besonderer Weise benachteiligt werden. Da es dem nationalen Gericht obliegt, diese Frage zu entscheiden, beschränkt sich der EuGH darauf, dem entscheidenden nationalen Gericht Auslegungshinweise zu geben.
Diese Auslegungshinweise lauten wie folgt:
- Eine Ungleichbehandlung im Sinne einer mittelbaren Diskriminierung ist dann auszuschließen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Zieles angemessen und erforderlich sind.
- Der Wunsch der Arbeitgeberin bzw. des Arbeitgebers, den Kundinnen und Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, ist aus der Sicht des EuGH als Teil der unternehmerischen Freiheit zu betrachten, die eines der Grundrechte der Grundrechtecharta ist.1
- Den Wunsch der Arbeitgeberin bzw. des Arbeitgebers, den Kundinnen und Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, betrachtet der EuGH zudem auch als rechtmäßiges Ziel, insbesondere dann, wenn die Arbeitgeberin bzw. der Arbeitgeber bei der Verfolgung dieses Zieles nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einbezieht, die mit Kundinnen und Kunden direkt in Kontakt treten.
- Die Angemessenheit einer solchen internen Neutralitätsregelung ist für den EUGH immer dann gegeben, wenn das Unternehmen diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt.
Die Anwendbarkeit der EuGH-Entscheidung auf andere Unternehmen
Für die Frage der Anwendbarkeit dieser EuGH-Entscheidung auf andere Unternehmen oder Organisationen, die ähnliche Verbote erlassen wollen, gilt daher, dass in jedem Einzelfall mehrere Sachverhalte zu prüfen sind:
- Hat das Unternehmen beispielsweise schon vor dem Ereignis, das Ausgangspunkt für eine Beschwerde wegen Diskriminierung ist, für ihre Beschäftigten mit KundInnenkontakt eine allgemeine und undifferenzierte Politik des Verbotes in Bezug auf das sichtbare Tragen von politischen, philosophischen oder religiösen Symbolen gehabt oder nicht?
- Wird diese Regelung auch wirklich systematisch gegenüber allen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen gleichermaßen angewandt?
- Sind also alle Beschäftigten vom Verbot gleichermaßen betroffen oder handelt es sich um eine nur dem Anschein nach neutrale Regelung?
Es wäre jedenfalls unrichtig, aus der EuGH-Entscheidung eine grundsätzliche Berechtigung für die Einführung eines Kopftuchverbots am Arbeitsplatz abzuleiten.
Der EuGH hat in seiner Entscheidung zu C-188/15 vom 14.03.2017 festgestellt, dass der Wille einer Arbeitgeberin und eines Arbeitgebers, sich den Wünschen einer Kundin oder eines Kunden anzupassen, die bzw. der nicht mit Arbeitnehmerinnen in Kontakt treten will, die das islamische Kopftuch tragen, nicht als wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne des Art. 4 Abs 1 der RL 2000/78/EG angesehen werden kann. Daher kann auf diese Art eine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmerinnen mit dem islamischen Kopftuch nicht gerechtfertigt werden und handelt es sich bei einer solchen Ungleichbehandlung von Arbeitnehmerinnen mit dem islamischen Kopftuch um einen Verstoß gegen das Gebot der Nicht-Diskriminierung. Demnach wird in derartigen Fällen genau zu prüfen sein, ob das Verbot des sichtbaren Tragens eines politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens auf das unternehmensinterne Gebot der Neutralität zurückgeht oder auf die Anpassung an die Wünsche von Kundinnen und Kunden.
Das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität
Auch der Aspekt der weltanschaulichen und religiösen Neutralität eines Unternehmens oder einer Organisation bedarf einer genaueren Betrachtung:
Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates äußert sich in Artikel 14 und Artikel 15 des Staatsgrundgesetzes (StGG), in Artikel 63 Absatz 2 des Staatsvertrags von St. Germain sowie im Artikel 9 der EMRK. Religiöse und weltanschauliche Neutralität meint hier immer, dass der Staat den Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit der religiösen oder weltanschaulichen Praxis lässt und sich nicht einmischt, indem er die eine oder andere weltanschauliche oder religiöse Praxis verbietet.
Die Literatur unterscheidet im Zusammenhang mit der religiösen Neutralität des Staates zwischen einer hereinnehmenden und einer distanzierenden Neutralität. Die distanzierende Neutralität
ist dann geboten, wenn der Staat [...] ‚für alle gleichmäßig ohne Ansehung der Religion oder Weltanschauung die demokratische Willensbildung zu organisieren und die elementaren Funktionen der allgemeinen weltlichen Existenzsicherung und Wohlfahrtsförderung wahrzunehmen hat.‘ (Dt BVerfG 14.12.1965, 19, 206 ff, hier: 216).2
Hereinnehmende Neutralität ist immer dann geboten, wenn der Staat nicht in den hoheitlichen unauswechselbaren Kernbereichen agiert, sondern wo es um die kultur- und leistungsstaatlichen Bereiche geht, die der moderne Staat immer mehr in seine Verantwortung genommen hat.3
In diesem Zusammenhang hat sich die Richterschaft in Österreich für ein neutrales Erscheinungsbild von Richterinnen, Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten ausgesprochen. Dazu wird eine gesetzliche Regelung hinsichtlich der Amtsbekleidung gefordert. Die bestehende Talar-Verordnung aus dem Jahr 1962 würde es trotzdem möglich machen, dass Richterinnen ein Kopftuch tragen. Weltanschauliche und religiöse Symbole aller Art seien mit der neutralen Richterin und dem neutralen Richter nicht kompatibel. Deren Outfit dürfe nicht durch Symbole religiöser Art den Anschein einer Befangenheit hervorrufen, so der Präsident der Richtervereinigung Werner Zinkl. Außerdem spricht sich Zinkl dafür aus, auch die letzten Relikte des Eides im Zivilprozess abzuschaffen - und somit die letzten Kreuze und andere Religionssymbole aus dem Gerichtssaal zu verbannen.4
Diese Forderungen der Richterschaft entsprechen der distanzierenden Neutralität, bei der - wie bereits erwähnt - in Ausübung hoheitlicher Funktionen eine Trennung zwischen Staat und Kirche verwirklicht wird.
Nicht-staatliche Organisationen werden zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität im Sinn des Zulassens von weltanschaulichen und religiösen Praxen durch das Gleichbehandlungsgesetz verpflichtet. Für Unternehmen und andere privatrechtliche Organisationen als ArbeitgeberInnen gilt daher das Verbot der Diskriminierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgrund einer Religion oder Weltanschauung. Dies entspricht der oben genannten hereinnehmenden Neutralität.
Für die distanzierende Neutralität im Sinn der vollständigen Distanzierung von religiösen und weltanschaulichen Praxen und Symbolen gibt es für nicht-staatliche Organisationen keine gesetzliche Vorgabe. Die hier besprochene Entscheidung des EuGH zu C-157/15 ermöglicht es jedoch privaten Unternehmen, unter bestimmten Umständen eine distanzierende religiöse und weltanschauliche Neutralität zu verwirklichen und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in weiterer Folge zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität nach außen zu verpflichten.
Dennoch bleibt in jedem konkreten Fall zu prüfen, wie sich diese Neutralität in der Praxis konkret auswirkt. Wie bereits angeführt, wird zu prüfen sein, ob alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleichermaßen von einer solchen Verpflichtung betroffen sind und ob auch wirklich alle religiösen Symbole (z.B. das Kreuz an der Halskette) und andere weltanschauliche Symbole bzw. Tätigkeiten (z.B. eine eventuelle Parteizugehörigkeit) im gleichen Ausmaß mitumfasst sind. Wenn nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gleich betroffen sind und sich diese Verpflichtung nur auf Frauen mit dem islamischen Kopftuch auswirkt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine mittelbare Diskriminierung anzunehmen.
Ein konkretes Beispiel: Das Berufsförderungsinstitut Steiermark
Das Berufsförderungsinstitut Steiermark (bfi) reagierte prompt auf die Entscheidung des EuGH zu C-157/15 und setzte ein Kopftuchverbot für seine Mitarbeiterinnen durch. Per Dienstanweisung wurde das Leitbild des Betriebes erweitert. Um zukünftig für Neutralität zu sorgen, werden Symbole aller Religionen aus dem Unternehmen verbannt. Der Betrieb bekenne sich zwar zu einer Willkommenskultur, wolle allerdings unmissverständlich die westliche Kultur und ihre Werte vermitteln. „Deshalb werde man nur Trainerinnen und Mitarbeiterinnen in westlicher Kleidung als Vorbilder beschäftigen, die Mädchen auch ermutigen, selbst auf das Kopftuch zu verzichten." Widrigenfalls kommt es zu Entlassungen.5
Auch in diesem Fall gilt das oben Gesagte: Im konkreten Klagsfall bleibt zu prüfen, ob die Erweiterung des Leitbildes, die alle religiösen Symbole aus dem Unternehmen entfernt, alle Trainerinnen und Trainer gleichermaßen betrifft und ob diese Regelung systematisch angewandt wird.
Ausgehend von der öffentlich geäußerten Begründung des Geschäftsführers des bfi Steiermark, dass die Trainerinnen und Trainer des bfi Steiermark in westlicher Kleidung westliche Werte vermitteln und Mädchen ermutigen, selbst auf das Kopftuch zu verzichten, liegt die Annahme nahe, dass hinter der Regelung keine neutrale Haltung gegenüber dem als nicht westlich bewerteten Islam steht, sondern eine Haltung, die die Praxis des Tragens des islamischen Kopftuches einerseits als nicht mit den westlichen Werten kompatibel betrachtet und andererseits als eine religiöse Praxis, die überwunden werden sollte. Beide Aspekte dieser Haltung sind eindeutig nicht neutral der muslimischen Religion gegenüber. Grundrechtlich problematisch wird dies spätestens dann, wenn diese Haltung einer Religion gegenüber zu einem Verhalten gegenüber Angehörigen dieser Religion führt, das gezielt und bewusst in die religiöse Praxis dieser Menschen eingreift: Durch die neue unternehmensinterne Regelung werden muslimische Trainerinnen, die das religiös motivierte Kopftuch tragen, gezwungen, entweder das Kopftuch während der Arbeitszeit abzunehmen, oder sie verlieren ihre Arbeit beim bfi Steiermark bzw. können sich erst gar nicht als Trainerinnen bewerben. Die vom bfi Steiermark argumentativ beanspruchte distanzierende Neutralität würde jedoch bedeuten, sich von allen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen gleichermaßen zu distanzieren, um jeglichen Eindruck von Voreingenommenheit gegenüber Menschen bestimmter religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen auszuschließen. Dies ist durch die Erklärung der Regelung bei deren Einführung durch die Geschäftsführung des bfi Steiermark vorerst missglückt.
Resümee
Die Entscheidung des EuGH vom 14.03.2017 zu C-157/15 zum Verbot eines belgischen Unternehmens, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen der politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugung zu tragen, sagt klar, dass dieses Verbot keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung ist, wenn das Verbot für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in gleichem Maß gilt und auch angewendet wird. Die Entscheidung äußert sich nicht eindeutig zur Frage, ob es sich bei dem Verbot um eine mittelbare Diskriminierung handelt. Eine solche wäre nur dann auszuschließen, wenn das Verbot keine nur scheinbar neutrale Regelung wäre und wenn die Neutralitätsregelung des Unternehmens konsequent und systematisch umgesetzt wird.
Wünsche von Kundinnen und Kunden, nicht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestimmter Religion oder Weltanschauung bedient zu werden, berechtigen das Unternehmen nicht zu unterschiedlichen Behandlung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlicher Religionen oder Weltanschauungen.
Damit ist die Entscheidung des EuGH einerseits ein klarer Hinweis, dass Unternehmen das Recht haben, eine nachvollziehbare Politik der generellen religiösen und weltanschaulichen Neutralität auch mittels Verboten umzusetzen, andererseits ein nicht weniger klarer Hinweis, dass spezielle Verbote des muslimischen Kopftuchs weiterhin gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen.
1 Vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 16.
2 Kalb/Potz/Schinkele: Religionsrecht. Wien 2003, S. 16.
3 Richard Potz: Religion im öffentlichen Raum. In: Zwischen Kruzifix und Minarett. Religion im Fokus der Öffentlichkeit. Hrsg. von Christian Danz und André Ritter. S. 68. Und Vgl. Brünner/Neger in Religion - Staat - Gesellschaft 12 (2011), S. 88.
4 http://diepresse.com/home/innenpolitik/5186056/Richter-fordern-Entfernung-aller-religioesen-Symbole
5 www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/5183661/Graz_Bildungsinstitut-bfi-verbietet-Miarbeiterinnen-das-Kopftuch